Episodes

  • Unbefleckte Empfängnis
    May 21 2023
    Den Blick des Gerichtsmediziners, mit dem dieser von lechzender Neugierde erregte Mensch in meinen geöffneten Brustkorb schauen wird, werde ich nicht mehr erleben, mich nicht einmal dafür schämen können, ein bisschen zu viel auf die Waage zu bringen. Sachlich gesehen: durchaus stattliches Körperfett, Leberverfettung, mein schlaffer, enttäuschender Herzmuskel ist auch so ein wunder Punkt wie meine vergrößerte Schilddrüse, plumpes Muskelgewebe und zu schwaches Lungenvolumen werden keine Rolle mehr spielen. Keine Vorwürfe mehr, die Dinge der Welt werden ohne mich weitergehen. Lehrbuchhaft wird mein Ableben sein, eine grandiose, aber abgeschmackte Fiktion, fürchte ich, nur mir wird sie bitterer Ernst sein. Jetzt spüre ich wieder den Schmerz, der mich lähmt, und eine erste Umnachtung, immer wieder fallen mir die Augen zu, bloß wach bleiben, sage ich mir, das kann doch nicht so schwer sein, nimmt mein Blick verschwommen das wahr, was alle anderen in ihrer Blasiertheit lediglich Wirklichkeit zu nennen pflegen, höre ich bereits vermehrt aufgeregte, panische Stimmen wie aus einer unbestimmten, dahingewaberten Entfernung, öffne meine Augen wieder und wie durch einen abdämpfenden Schleier sehe ich in erschütterte, bleiche Gesichter, die sich über mich beugen oder entsetzt wegsehen, Finger, die auf mich zeigen, angewidert und ohne jedes Erbarmen. Die ausgiebige Barmherzigkeit hat ihre engen Grenzen. Ein Martinshorn kreischt. „Der lebt.“ Der Mann klingt ungläubig, beinahe beleidigt, dass er keinen Toten gefunden hat, nur einen, der gerade im Begriff ist zu sterben, ein nicht ganz gewöhnlicher Sterbender, diese Geschichte würde ihm im Freundeskreis immerhin ein staunendes Entsetzen bescheren, vielleicht Bewunderung. Er hat jemanden gefunden, auf den geschossen worden war. Hat er aber auch den Schuss gehört? Ich kann es nicht ändern, auch wenn mir eine gewisse Unauffälligkeit nachgesagt wird: Dieses Mal stehe ich allerdings in einem überdeutlichen, drastischen Übertriebenheitsmechanismus im Mittelpunkt. Dabei war es meine Mittagspause, die ich in Ruhe genießen wollte, und nun liege ich im Sterben, auf dem Asphalt, höre mich schwerfällig und röchelnd atmen, ein metallischer Geschmack ist in meinem Mund, ich blute wohl im Rachenraum, im oder am Kopf. Ich bin schon am Ende, ehe ich noch einmal die Erinnerungen wahrnehme, die als hell flimmernde Bilder plötzlich vor mir auftauchen. Ein Mann liegt im Sterben. Eine Frau hat auf ihn unvermittelt geschossen - warum nur?
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    24 mins
  • Gualdo Tadino
    May 10 2022
    Dieser Herbst hatte tatsächlich ein paar warme, beinahe noch hochsommerliche Tage. Über Gualdo Tadino fristete die umbrische Oktobersonne über Gebühr ihre heißeren Stunden dieses bereits sehr brüchigen, eigentlich schon längst vergangenen Sommers. Selbst am Abend konnte man noch einen Espresso oder den üblichen Aperitivo auf der Terrasse eines der Cafés nehmen und noch einmal unter den dunklen Trauerzypressen schlendern, die die unebenen Wege säumten. Krista war am Nachmittag mit ihrem Mann angekommen. Mit seinem weißen Haar und seiner beeindruckenden Adlernase war er eine schon heilige Erscheinung mit dem auch noch exaltiert klingenden Vornamen Bartholomäus. In der Tat war auch er gewissermaßen ein Apostel wie sein Namensgeber, auch er fühlte sich manchmal, als müsse er in den hintersten Winkeln der bekannten Welt irgendein Evangelium verkünden, müsse dafür seine Haut zu Markte tragen, die man ihm am Ende vielleicht genüsslich abziehen würde.
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    35 mins
  • Im Schatten kreisender Vögel
    May 9 2022
    Danny musste endlich den Psychiater anrufen. Es blieb ihm keine andere Wahl, wenn er jetzt noch einmal die Kurve kriegen wollte. Er war bis zu diesem Zeitpunkt seit vier Monaten trocken gewesen, aber nun? Dieser verfluchte Augenblick, als ihn seine Frau Dorit hinausgeworfen hatte, und er sich ein Zimmer in der Nähe ihrer einst gemeinsamen Wohnung nehmen musste, der Kinder wegen, hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Eines ihrer beiden Kleinen war ziemlich auffällig, zappelte viel herum, lernte nur schwer sprechen, während das andere mit zwei Jahren still, fast stumm, war, und nur etwas sagte, wenn es gefragt wurde. Er und seine Frau hatten sich wiedergefunden. Sie mussten für die Kinder da sein. Sie hatten vorgehabt, wieder zusammen zu ziehen, am besten gleich in eine größere Wohnung. Seine Frau war seit langem depressiv, eigentlich hatte er sie bereits in diesem düsteren Zustand ständiger Selbstaufgabe kennengelernt, als er vor acht Jahren noch bei einem Abbruchunternehmen arbeitete und an einem jener trostlosen Novemberabende beschloss, als er sie in einer Bar traf, sie sofort retten zu wollen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen – dabei war es geblieben. Tagsüber riss er mit wohldosierten Sprengladungen und einem Bagger heruntergekommene Altbauten ab, abends und morgens blickte er in die traurigen, leeren Augen seiner Frau. Er wollte es gut machen, bemühte sich. Sie hielten durch, gingen aufeinander zu. Es musste klappen, sie, die Frau und inzwischen zweifache Mutter, die von ihrer Erkrankung gepeinigt wurde, und er der Familienvater, der in den vergangenen Jahren immer wieder abgestürzt war, sich aber genauso oft geschworen hatte, keinen Tropfen mehr zu trinken...
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    1 hr and 1 min
  • Die sonderbare Stille in der Unruhe
    May 9 2022
    Der ältere, stets elegant gekleidete Herr wartete fast jeden Morgen gegen acht Uhr auf den Bus, und Isolde wartete mit ihm. Sie warteten nicht zusammen, aber doch gemeinsam. Sie stand in seiner Nähe, und er schien es nicht einmal zu bemerken. Mit konsequenter Regelmäßigkeit schaute er nach ein paar Augenblicken immer nervös auf seine Uhr, in wenigen Minuten würde der Bus kommen. Sie wollte immer nur so lang warten, bis er eingestiegen und abgefahren war, um dann, wenn er noch einmal aus dem Fenster zu ihr schauen sollte, so zu tun, als warte sie auf einen anderen Bus. Aber er sah nie aus dem Fenster. Der Mann blickte nur starr ins Leere, so als erwarte er etwas, das unerträglich sein musste, aber zwangsläufig eintreffen würde. Vielleicht neue Diagnosen oder Therapien einer schwerwiegenden Erkrankung? Sie ahnte das, sie ahnte es so sehr, dass es beinahe die Qualität einer Gewissheit hatte und doch ungewiss war wie jede bloße Vermutung. Seinen Kopf wandte er ihr nie zu. Bemerkte er sie überhaupt? Hatte er sie jemals irgendwie wahrgenommen? Dass er Edgar hieß, hatte sie einmal mitbekommen, als er sich mit einem Freund auf der Straße unterhalten hatte und sie wie zufällig an ihm vorbeigeschlendert war. Edgar, das klang nordeuropäisch, souverän und irgendwie herrschaftlich und selbstbewusst. Er mochte um die siebzig sein, damit wenige Jahre jünger als sie selbst. Sie hatte ihn bereits vor ein paar Jahren das erste Mal am Elisabethmarkt gesehen, aber nie angesprochen. Er hatte ihr ein freundliches Lächeln geschenkt. Es hatte sie für ihn eingenommen, ein bisschen sogar verzaubert. Zumindest hatte es ein Gefühl von einem gewissen Schwung und vibrierender Lebenszärtlichkeit hinterlassen. Zuerst war ihr sein Gang aufgefallen, die ausladenden Bewegungen, mit denen er sich von Stand zu Stand bewegte, meistens freundlich abwinkte, wenn er von einem der Händler etwas gefragt wurde, dann war es die ebenmäßige, erhabene Kontur seines Gesichts und schließlich, dass eine Zeitung auffällig halb in seiner Manteltasche steckte. Das war altmodisch. Er schien aus der Zeit gefallen zu sein. Er erinnerte sie an jemanden...
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    39 mins
  • Hurrikan
    May 9 2022
    Es war unerträglich heiß. Bruce stand in der langen Schlange vor dem Supermarkt, der mit dem Namen Ackerhalle nicht nur treffend beschrieben war, weil er an der Ackerstraße lag, sondern auch, weil von ihm eine gewisse Eleganz von Grobschlächtigkeit ausging. Das lag nicht allein an der herablassenden Industriearchitektur aus historisch verträumtem Backstein und martialischem Kasernenvorbild, sondern vor allem an den Leuten, die dort arbeiteten, die ihre Unhöflichkeit beinahe schon frech zur Schau stellten, mit der sich der selbsternannte kleine Mann von der Straße in Berlin stets in Position zu bringen verstand. Gottseidank hatte Bruce bisher niemanden erkannt. In den letzten Monaten war er wieder öfter angesprochen worden, ob er nicht der sei. Die fürchterlichen Schlagzeilen vom vergangenen Jahr, keine neun Monate her, wie Ex-Kinderstar: Unfall – 2,0 Promille! waren womöglich noch nicht ganz vergessen. Wochenlang hatte er sich in seiner Wohnung verschanzt, dann halbherzig eine Therapie über sich ergehen lassen. Wenn er jetzt die Augen schloss, um sich für Momente aus dieser angespannten Situation wegzuträumen, kam ihm unweigerlich die leise, behutsame Stimme seines Psychiaters in den Sinn. „Machen Sie sich immer klar, dass Sie sich mit Alkohol vergiften. Langfristig wirkt es nicht nur wie Gift – es ist Gift.“ Seine Worte hatten einen schmerzhaften Automatismus ausgelöst. Er trank nicht mehr, seinen letzten Rückfall hatte er allerdings noch vor ein paar Wochen erlebt, aber dieser war, verglichen mit seinen Exzessen der Vergangenheit, beinahe harmlos gewesen, und er hatte es geschafft, sich in den darauffolgenden vier Tagen selbst zu entgiften, indem er immer weniger trank, bis er schließlich glaubte, seit Jahren einfach wieder trocken zu sein...
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    44 mins
  • Jahrestag
    May 9 2022
    Die Eiswürfel klirrten bitter. Es war schon weit nach Mitternacht und die noch hochsommerliche Hitze war bereits einer ersten nächtlichen Kälte gewichen. Die Lampions im Garten sahen genauso deplatziert verloren aus wie die beiden Praktikantinnen, die in ihren kurzen, weißen Blusen draußen froren. Später würden sie sicher begafft werden. Ihre harten Brustwarzen taugten zu einem Thema unter Männern, ein Gespräch, das nicht länger als ein paar Minuten dauern würde, ehe man sich anschließend fragte, wie die beiden wohl im Bett wären. Leo kannte Abende wie diese zur Genüge. Er dachte an seinen toten Bruder. Lenny war nicht einfach sein Bruder gewesen, sondern sein eineiiger Zwillingsbruder, in dessen Schatten er Zeit seines Lebens gestanden hatte…
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    45 mins