Den Blick des Gerichtsmediziners, mit dem dieser von lechzender Neugierde erregte Mensch in meinen geöffneten Brustkorb schauen wird, werde ich nicht mehr erleben, mich nicht einmal dafür schämen können, ein bisschen zu viel auf die Waage zu bringen. Sachlich gesehen: durchaus stattliches Körperfett, Leberverfettung, mein schlaffer, enttäuschender Herzmuskel ist auch so ein wunder Punkt wie meine vergrößerte Schilddrüse, plumpes Muskelgewebe und zu schwaches Lungenvolumen werden keine Rolle mehr spielen. Keine Vorwürfe mehr, die Dinge der Welt werden ohne mich weitergehen. Lehrbuchhaft wird mein Ableben sein, eine grandiose, aber abgeschmackte Fiktion, fürchte ich, nur mir wird sie bitterer Ernst sein. Jetzt spüre ich wieder den Schmerz, der mich lähmt, und eine erste Umnachtung, immer wieder fallen mir die Augen zu, bloß wach bleiben, sage ich mir, das kann doch nicht so schwer sein, nimmt mein Blick verschwommen das wahr, was alle anderen in ihrer Blasiertheit lediglich Wirklichkeit zu nennen pflegen, höre ich bereits vermehrt aufgeregte, panische Stimmen wie aus einer unbestimmten, dahingewaberten Entfernung, öffne meine Augen wieder und wie durch einen abdämpfenden Schleier sehe ich in erschütterte, bleiche Gesichter, die sich über mich beugen oder entsetzt wegsehen, Finger, die auf mich zeigen, angewidert und ohne jedes Erbarmen. Die ausgiebige Barmherzigkeit hat ihre engen Grenzen. Ein Martinshorn kreischt. „Der lebt.“ Der Mann klingt ungläubig, beinahe beleidigt, dass er keinen Toten gefunden hat, nur einen, der gerade im Begriff ist zu sterben, ein nicht ganz gewöhnlicher Sterbender, diese Geschichte würde ihm im Freundeskreis immerhin ein staunendes Entsetzen bescheren, vielleicht Bewunderung. Er hat jemanden gefunden, auf den geschossen worden war. Hat er aber auch den Schuss gehört? Ich kann es nicht ändern, auch wenn mir eine gewisse Unauffälligkeit nachgesagt wird: Dieses Mal stehe ich allerdings in einem überdeutlichen, drastischen Übertriebenheitsmechanismus im Mittelpunkt. Dabei war es meine Mittagspause, die ich in Ruhe genießen wollte, und nun liege ich im Sterben, auf dem Asphalt, höre mich schwerfällig und röchelnd atmen, ein metallischer Geschmack ist in meinem Mund, ich blute wohl im Rachenraum, im oder am Kopf. Ich bin schon am Ende, ehe ich noch einmal die Erinnerungen wahrnehme, die als hell flimmernde Bilder plötzlich vor mir auftauchen. Ein Mann liegt im Sterben. Eine Frau hat auf ihn unvermittelt geschossen - warum nur?
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