Liebe Leserinnen und Leser,Pulitzerpreisgekrönte Werke zu rezensieren ist heutzutage eine dankbare Aufgabe: da haben schon die Fachleute draufgeschaut, die beruflichen Rezensenten gewerkelt und eingeschätzt, die Marketingmaschine der weltweit beteiligten Verlage läuft auf Hochtouren - zumindest für eine gewisse Zeit vor und nach der Preisverleihung - , und auch die lokalen Buchhandlungen schmücken ihre Fensterauslagen und Buchtische.Im letzten Jahr gewann diesen Preis im Bereich der Belletristik - denn die Pulitzerpreise gibt es auch für Sachbücher, zuallererst aber für herausragende journalistische Arbeiten - Barbara Kingsolver mit dem heute hier vorgestellten "Demon Copperhead", im Deutschen ebenfalls: "Demon Copperhead".Warum dieses Werk seinen englischen Titel behalten durfte, ist sicherlich zum einen der Fakt, dass es sich um den Rufnamen des Protagonisten - mit bürgerlichem Namen Damon Fields - handelt, zum anderen, dass sich Demon Copperhead die Inspiration des Werkes, die Initialen und einen Teil des Nachnamens, nämlich mit Charles Dickens "David Copperfield" teilt.Worum geht es: Damons Vater stirbt, bevor er auf die Welt kommt. Seine Mutter, noch minderjährig, kämpft mit Drogenabhängigkeit. Seine Verhältnisse sind ärmlich, und der Plot entfaltet sich in den abgeschiedenen Bergen der Appalachen, einem Gebirgszug an der Ostküste der USA.Man muss kein Anhänger von Karl Marx sein, um die These "Das Sein bestimmt das Bewusstsein." oder einfacher "die materielle Grundlage prägt das gesellschaftliche Leben" nachvollziehen zu können. Zunächst wird Demon von seiner Mutter und den älteren Nachbarn, den Peggots, großgezogen. Währenddessen ist deren Enkel Matt, der bei ihnen aufwächst, weil seine Mutter im Knast ist, sein bester Freund. Bis hierher ist alles dufte soweit. Dann lernt Damons Mutter einen neuen Typen kennen, der sie zurück zu den Drogen bringt und auch nicht an ihrem "Anhang" interessiert ist. Die Oxycontin-Krise ist groß und spielt im Buch als gesellschaftliche Problematik eine große Rolle. Für Damon ist es eine sehr persönliche Problematik, denn seine Mutter stirbt, und er beginnt eine Odyssee durch verschiedene Pflegeeinrichtungen. In einem Werk zeigte sich die Autorin besonders erschüttert darüber, dass die Aufnahme und Pflege von Waisen oder elternlosen Kindern in den USA ein Geschäft ist, bei dem Mindeststandards zuverlässig verletzt werden und diejenigen, die mit ihrer Einhaltung beschäftigt sind, so schlecht bezahlt werden, dass sie diesen Job verlassen, wenn nur irgendwie möglich. Körperlicher und seelischer Missbrauch, Zwangsarbeit und Ausbeutung sind einige der Folgen.In "Demon Copperhead" lässt Barbara Kingsolver den Protagonisten von Anfang an zu Wort kommen. Dies zeigt zum einen, wie klein und von wenigen Faktoren abhängig Kinder auf ihren Weg geschickt und geprägt werden, zum anderen erkennen wir Zusammenhänge, weil sie uns durch kindliche Augen geschildert werden, und die wir über den Zynismus der Zustände längst verdrängt hatten.Es ist eine harte Geschichte. Und während sich Charles Dickens in "David Copperfied" ebenfalls mit heftigen Widrig- und Gefährlichkeiten auseinandersetzt, ist Barbara Kingsolvers Werk brutaler und direkter, weil es beschissene Verhältnisse sind, die JETZT, gerade eben so stattfinden oder stattfinden können.Das pralle Buch versammelt eine wachsende Zahl - ganz wie Kinder ihren Kreis beständig erweitern - von Menschen, die Demon feindlich gegenüberstehen, oft im besten Fall noch indifferent, aber bis auf wenige Ausnahmen eben nicht voller Liebe und Güte, wie es ein Kind braucht. Dabei sind die Ausnahmen rar, und umso wichtiger. Das sind Damons Freunde und Bekanntschaften, die aber ihrerseits mit Drogen und Armut zu kämpfen haben, aber es gibt auch Lehrer, die Damon ermutigen, seine Talente zu pflegen und ihm Achtung und Respekt entgegenbringen.Er findet die Liebe und verliert sie wieder. Er flieht, um seine Großmutter - die Mutter seines Vaters, den er nie kannte - zu suchen, und die Geschichte dieser Flucht ist das Herzzerreißendste, was ich seit langem gelesen habe.Barbara Kingsolver hat nach Selbstauskunft mit der Grundlage von Charles Dickens "David Copperfield" einen Weg gefunden, wie sie über die verlorenen Kinder der Appalachen schreiben, und dabei ein positives Ende, mit Fantasie und der Magie der Vorstellung erzählen kann.Ein Seitenstrang der Geschichte ist die Frage, warum die Einwohner der Appalachen so oft verhöhnt und als Rednecks und Hillbillies das kürzere Ende von Witzen sind. Es findet sich eine sehr überraschende Erklärung, die hier nicht verraten wird. Sie lässt allerdings noch einmal die Ostfriesenwitze, die Anfang der 1990er Jahre allgegenwärtig waren, in einem anderen Licht erscheinen.Das waren jetzt viele Punkte zum Hintergrund, aber worum es ja geht, sind Lobpreisung oder Verriss. Während in dieser Rezension die übergroßen Widrigkeiten im Vordergrund standen: das...