Lob und Verriss - Der Podcast

By: Studio B und mehr
  • Summary

  • Literaturkritik und Themen, die uns bewegen

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    Lob und Verriss
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Episodes
  • Barbara Kingsolver: Demon Copperhead
    Nov 14 2024
    Liebe Leserinnen und Leser,Pulitzerpreisgekrönte Werke zu rezensieren ist heutzutage eine dankbare Aufgabe: da haben schon die Fachleute draufgeschaut, die beruflichen Rezensenten gewerkelt und eingeschätzt, die Marketingmaschine der weltweit beteiligten Verlage läuft auf Hochtouren - zumindest für eine gewisse Zeit vor und nach der Preisverleihung - , und auch die lokalen Buchhandlungen schmücken ihre Fensterauslagen und Buchtische.Im letzten Jahr gewann diesen Preis im Bereich der Belletristik - denn die Pulitzerpreise gibt es auch für Sachbücher, zuallererst aber für herausragende journalistische Arbeiten - Barbara Kingsolver mit dem heute hier vorgestellten "Demon Copperhead", im Deutschen ebenfalls: "Demon Copperhead".Warum dieses Werk seinen englischen Titel behalten durfte, ist sicherlich zum einen der Fakt, dass es sich um den Rufnamen des Protagonisten - mit bürgerlichem Namen Damon Fields - handelt, zum anderen, dass sich Demon Copperhead die Inspiration des Werkes, die Initialen und einen Teil des Nachnamens, nämlich mit Charles Dickens "David Copperfield" teilt.Worum geht es: Damons Vater stirbt, bevor er auf die Welt kommt. Seine Mutter, noch minderjährig, kämpft mit Drogenabhängigkeit. Seine Verhältnisse sind ärmlich, und der Plot entfaltet sich in den abgeschiedenen Bergen der Appalachen, einem Gebirgszug an der Ostküste der USA.Man muss kein Anhänger von Karl Marx sein, um die These "Das Sein bestimmt das Bewusstsein." oder einfacher "die materielle Grundlage prägt das gesellschaftliche Leben" nachvollziehen zu können. Zunächst wird Demon von seiner Mutter und den älteren Nachbarn, den Peggots, großgezogen. Währenddessen ist deren Enkel Matt, der bei ihnen aufwächst, weil seine Mutter im Knast ist, sein bester Freund. Bis hierher ist alles dufte soweit. Dann lernt Damons Mutter einen neuen Typen kennen, der sie zurück zu den Drogen bringt und auch nicht an ihrem "Anhang" interessiert ist. Die Oxycontin-Krise ist groß und spielt im Buch als gesellschaftliche Problematik eine große Rolle. Für Damon ist es eine sehr persönliche Problematik, denn seine Mutter stirbt, und er beginnt eine Odyssee durch verschiedene Pflegeeinrichtungen. In einem Werk zeigte sich die Autorin besonders erschüttert darüber, dass die Aufnahme und Pflege von Waisen oder elternlosen Kindern in den USA ein Geschäft ist, bei dem Mindeststandards zuverlässig verletzt werden und diejenigen, die mit ihrer Einhaltung beschäftigt sind, so schlecht bezahlt werden, dass sie diesen Job verlassen, wenn nur irgendwie möglich. Körperlicher und seelischer Missbrauch, Zwangsarbeit und Ausbeutung sind einige der Folgen.In "Demon Copperhead" lässt Barbara Kingsolver den Protagonisten von Anfang an zu Wort kommen. Dies zeigt zum einen, wie klein und von wenigen Faktoren abhängig Kinder auf ihren Weg geschickt und geprägt werden, zum anderen erkennen wir Zusammenhänge, weil sie uns durch kindliche Augen geschildert werden, und die wir über den Zynismus der Zustände längst verdrängt hatten.Es ist eine harte Geschichte. Und während sich Charles Dickens in "David Copperfied" ebenfalls mit heftigen Widrig- und Gefährlichkeiten auseinandersetzt, ist Barbara Kingsolvers Werk brutaler und direkter, weil es beschissene Verhältnisse sind, die JETZT, gerade eben so stattfinden oder stattfinden können.Das pralle Buch versammelt eine wachsende Zahl - ganz wie Kinder ihren Kreis beständig erweitern - von Menschen, die Demon feindlich gegenüberstehen, oft im besten Fall noch indifferent, aber bis auf wenige Ausnahmen eben nicht voller Liebe und Güte, wie es ein Kind braucht. Dabei sind die Ausnahmen rar, und umso wichtiger. Das sind Damons Freunde und Bekanntschaften, die aber ihrerseits mit Drogen und Armut zu kämpfen haben, aber es gibt auch Lehrer, die Damon ermutigen, seine Talente zu pflegen und ihm Achtung und Respekt entgegenbringen.Er findet die Liebe und verliert sie wieder. Er flieht, um seine Großmutter - die Mutter seines Vaters, den er nie kannte - zu suchen, und die Geschichte dieser Flucht ist das Herzzerreißendste, was ich seit langem gelesen habe.Barbara Kingsolver hat nach Selbstauskunft mit der Grundlage von Charles Dickens "David Copperfield" einen Weg gefunden, wie sie über die verlorenen Kinder der Appalachen schreiben, und dabei ein positives Ende, mit Fantasie und der Magie der Vorstellung erzählen kann.Ein Seitenstrang der Geschichte ist die Frage, warum die Einwohner der Appalachen so oft verhöhnt und als Rednecks und Hillbillies das kürzere Ende von Witzen sind. Es findet sich eine sehr überraschende Erklärung, die hier nicht verraten wird. Sie lässt allerdings noch einmal die Ostfriesenwitze, die Anfang der 1990er Jahre allgegenwärtig waren, in einem anderen Licht erscheinen.Das waren jetzt viele Punkte zum Hintergrund, aber worum es ja geht, sind Lobpreisung oder Verriss. Während in dieser Rezension die übergroßen Widrigkeiten im Vordergrund standen: das...
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    6 mins
  • Brit Bennett: Die Mütter
    Nov 3 2024
    Begibt man sich bei Google auf die Suche nach der Stadt Oceanside in Kalifornien, unweit von San Diego, so fördert einem selbige Suchmaschine in kürzester Zeit Bilder der Stadt zu Tage, die einen träumen lassen. Mit dem größten Holzpier an der Westküste und einer atemberaubende Küste selbst, sowie besten klimatischen Bedingungen lässt sich leicht vorstellen, wie einfach man hier eine gute Zeit verbringen könnte. Dabei ist Oceanside einerseits die Stadt, in der die Autorin Brit Bennett geboren und aufgewachsen ist und andererseits der Schauplatz, an dem sie die Handlung ihres Debütromans Die Mütter ansiedelt. The mothers erschien 2016 im Original und wurde zwei Jahre später auf Deutsch im Rowohlt Verlag veröffentlicht.Die Mütter, die nicht nur titelgebend für den Roman sind, sondern auch thematisch einen wichtigen Schwerpunkt bilden, erscheinen dabei in unterschiedlichsten Formen und bestimmen das Leben der beiden Protagonistinnen Nadia und Aubrey vor allem durch ihre Abwesenheit. Während Erstere ihre Mutter durch Suizid verlor, wandte sich Letztere von ihrer Mutter aufgrund traumatischer Ereignisse in ihrer Kindheit und Jugend ab. Beide Mädchen sind Außenseiterinnen – die eine durch den Selbstmord ihrer Mutter dazu geworden – und finden dadurch, aber auch aufgrund ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten zueinander und werden schließlich zu Freundinnen. Den dritten in diesem Bunde bildet Luke, dessen Vater Pastor in der örtlichen Gemeinde ist und seine Frau und damit Lukes Mutter die strenge und gut organisierte Pastoren Gattin ist, welche größten Wert auf ihr Ansehen legt und die genau weiß, was für ihren Sohn das Beste ist.Nadia zählt dazu definitiv nicht, doch Luke ist ihre erste große Liebe und mit 17, kurz nach dem Verlust ihrer Mutter, wird sie ungewollt von ihm schwanger. Sie entscheidet sich gegen das Baby, nicht wissend, dass es für Luke eine Option gewesen wäre, es zu behalten und nicht ahnend, dass das Geld für die Abtreibung von Lukes Eltern kommt, denen es nur Recht ist, dass Nadia sich um „das Problem“ kümmert und der gute Ruf der Familie unbeschadet bleibt, auch wenn sie damit gegen ihre Religion handeln. Der Schwangerschaftsabbruch stellt auch das Ende der Beziehung der beiden dar und verweist ebenfalls auf den Titel des Romans und die Frage nach Mutterschaft. In diesem Fall nicht gewollt und doch gedanklich immer in Nadias Hinterkopf, auch aufgrund der Tatsache, dass ihre eigene Mutter im nahezu selben Alter mit ihr schwanger gewesen ist und sich für sie entschieden hat.Im Verlauf der Handlung werden schließlich Luke und Aubrey ein Paar. Aubrey, die eher ruhig und zurückhaltend ist, ohnehin in der Gemeinde arbeitet und von Lukes Mutter fast schon wie eine Tochter behandelt wird, ist damit die perfekte Schwiegertochter. Aubrey kennt jedoch die vollständige Vergangenheit, die Nadia und Luke miteinander teilen, zunächst nicht. Diese wird ihr nach und nach klar und bestimmt auch die Dynamik der drei und den Fortgang der Geschichte.Bereits aus der griechischen Tragödie kennen wir den Chor, der als Bindeglied zwischen Publikum und Schauspielern diente, kommentierte und eine moralische Instanz darstellte. Auch in Brit Bennetts Roman finden wir eine Art Chor, es ist der Chor der Mütter, der sich meist am Anfang der Kapitel zu Wort meldet und zum Lesenden spricht. Sie berichten von ihrer eigenen Vergangenheit, kommentieren die Geschehnisse und verweisen immer wieder darauf, dass sie nicht alle Details der Umstände – also des Skandals der Abtreibung – kannten, was sie jedoch nicht davon abhält, nicht von ihrem moralischen Podest herunter zutreten und zu bewerten. Trotz ihrer eigenen Geschichte benehmen sie sich teilweise, man möge mir den Ausdruck verzeihen, wie alte Klatschweiber; zumindest machten sie diesen Eindruck während der Lektüre auf mich.Brit Bennetts Roman glänzt durch seine thematische Vielfältigkeit. Mit den Müttern bzw. deren Abwesenheit verknüpft sie das Thema Identität und die Suche nach selbiger: „Und wenn es möglich war, den Menschen nicht zu kennen, dessen Leib einem das erste Zuhause gewesen war, wie konnte man dann überhaupt einen Menschen kennen?“ Diese Suche nach sich selbst findet außerdem in einem rein schwarzen Umfeld statt, zu dem die Autorin selbst auch gehört. Das Thema Rassismus wird dabei eher subtil behandelt und findet sich treffend auf den Punkt gebracht in beispielsweise folgendem Zitat wieder: „Er ging mit der Tatsache, dass er Weißer war, genauso um wie alle linksliberalen Weißen: Er nahm sie nur zur Kenntnis, wenn er sich durch seine Hautfarbe benachteiligt fühlte, und ignorierte sie ansonsten.“ Aber auch die Themen Freundschaft, Liebe und Einsamkeit, sowie falsche Moral sind stetige Begleiter im Roman und machen das gefühlsmäßige Spannungsfeld in dem sich die drei Protagonist:innen bewegen nachfühlbar und zu einem empfehlens- und lesenswerten Roman.Nicht weniger empfehlenswert ...
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    6 mins
  • Pavel Kohout: Die Henkerin
    Oct 27 2024
    Ich habe einen tschechischen Freund und kann das nur empfehlen. Ein Jeder sollte einen tschechischen Freund haben, es hat nur Vorteile!Erstens trinkt man nie wieder schlechtes Bier. In welcher Schenke auch immer man sich befindet, man schickt dem tschechischen Freund ein Foto der Getränketafel und erhält binnen Sekunden die Information, welche Biersorte zu empfehlen, welche zu meiden sei. Nur kurze Zeit später folgt ein kurzer Abriss zur Geschichte der angebotenen Sorten, sowie der herstellenden Brauerei und Informationen darüber, welche Fußballvereine der unteren tschechischen Ligen das Getränk anbieten, samt zu erwartender Preise in CZK und EUR. Zweitens, kann man sich den Erwerb einer Wetterapp fürs Smartphone sparen. Denn speziell im böhmischen Wetterkessel ist man seit Jahrhunderten bewandert darin, exakte Vorhersagen über Niederschlagszeiten und -mengen tätigen zu können, allein durch einen Blick in den Himmel. Das Aufkommen moderner Vorhersagetechnologie wird da nicht als Konkurrenz verstanden, sondern als Bestätigung der eigenen Progonosefähigkeiten. Drittens jedoch, eröffnet ein jedes Gespräch mit dem tschechischen Freund einen Einblick in einen Kulturraum, den man als Angehöriger eines so viel größeren Sprachgebiets zu oft mit Ignoranz straft - zum eigenen Verlust. Dabei werden starke Meinungen vertreten, nicht in Abgrenzung zu anderen Kulturen (ok, die Polen ausgenommen), nein, ein jeder Tscheche, so hat man das Gefühl, besitzt einen unerschöpflichen Vorrat an Meinungen zu den landeseigenen Kulturschaffenden aus Literatur, Theater, Funk und Fernsehen. Und von Heavy Metal sollte man gar nicht erst anfangen, wenn man vor dem Morgengrauen ins Bett möchte. Das habe ich letztens nur knapp geschafft, nach einem Gespräch in einer der in meiner deutschen Heimatstadt mittlerweile, und dankenswerterweise, etablierten böhmischen Bierstuben. Ein Gespräch, wie ich es in Prag und Brno, Ústí und Děčín an Nachbartischen schon so oft sprachunfähig beneidet habe, endlich war ich Teil davon, dank des tschechischen Freundes und seiner Großmutter, denn die sprach deutsch und so tat er es ihr nach. Zum Prager Urquell wurde gedisst (Kundera), genaserümpft (Havel), stolzgebrüstet (Kafka). Anekdoten wurden erzählt, selbsterlebt oder legendär in der Heimat. Und als ich kurz überlegte, ob wir denn bei Lob und Verriss schon mal einen Autor aus dem so nahen Nachbarland rezensiert hätten, fiel mir keiner ein (weil ich alt bin, denn ich hatte natürlich “Klapperzahns Wunderelf” vergessen.) Dennoch, nur ein einziger rezensierter tschechischer Autor in 17 Jahren, das ist peinlich und traurig und so nahm sich der tschechische Freund meiner an und empfahl und verwarf, rang mit sich und der Welt, welche oder welcher es denn sein solle, welches tschechische Buch baldmöglichst im Studio B vorgestellt werden solle. Keiner der ganz großen: Kafka hat zu wenig geschrieben und den hatten wir auch alle in der Schule; Kundera ist doof und ein Verräter; keiner der Jungen: Jaroslav Rudiš ist zwar witzig aber auch doof (vielleicht war er auch witzig und cool, es gab Pilsner Urquell). Nach einigem solchen Hin und Her leuchteten die Augen des tschechischen Freundes plötzlich auf und es wurde festgelegt: Der Pavel Kohout muss es sein! Hierzulande eher unbekannt, hat er ein Ouvré das sich über Jahrzehnte erstreckt. Ja, man kann da etwas Neues, Modernes lesen, aber es soll ein Roman sein, der von der Idee her so entzückend und ergräulich zugleich sei, ja, der müsse es sein! Des Buches Namen: “Die Henkerin”.Ich hätte mir den Lesebefehl zwar sofort zu Herzen genommen und die Kindle-App gestartet, mir wurde dennoch begeistert gespoilert warum es “Die Henkerin” sein soll und wenn mir das widerfuhr, widerfährt es auch der Rezensionsleserschaft, zumal der Spoiler klitzeklein ist: das Folgende wird alles im ersten Teil des Buches abgehandelt, der Kindle sagt innerhalb der ersten 7%, und ist tatsächlich eine wunderschöne Romanidee und 1978 in der Tschechoslowakei geschrieben, funktioniert sie auch tatsächlich fast nur dort: So wie alles in den sozialistischen Planwirtschaften des Ostblocks, war auch die Berufswahl gesteuert und damit die Verantwortlichkeit für die berufliche Zukunft der sozialistischen Kinder nicht immer besonders verantwortlichen Beamten unterstellt. An einen Ebensolchen gerät Lucie Tachecí mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Lízinka. Letztere hatte sowohl die Voraussetzungen fürs Abitur knapp verpasst als auch die zur Musikhochschule. Der Tochter eines Philologen und einer Hausfrau mit Niveau drohte ein Abgleiten in ein proletarisches Leben. Eine Katastrophe vor allem für die Mutter, der Herr Professor lebt eh in einer Welt zwischen syn- und diachronischer Syntax. Also ließ Frau Tachecí, wie das damals so war, ihre Beziehungen spielen und erfuhr, wer der aktuelle Vorsitzende der Berufsberatungskommission ist, es sei ein Herr, dem man wohl mit ein...
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    12 mins

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